Die second opinion

Schnell ist es passiert, beim Skifahren, oder beim Fussball: einmal kurz das Knie verdreht, es knackst, und schon ist es um den Meniskus geschehen. Es ist nicht gerade so schlimm, dass man mit der REGA ins Spital muss, aber doch drängt sich ein Arztbesuch in der darauffolgenden Woche auf. Der Orthopäde schaut sich das Knie an, gibt die Bildgebung in Auftrag und kommt dann zum Schluss, dass operiert werden muss. Doch dann fühlt sich das Knie mit jedem Tag ein wenig besser an, und den Patienten beschleichen Zweifel, ob eine Operation wirklich nötig ist. Also holt sich der Patient bei einer anderen Ärztin eine Zweitmeinung, oder neudeutsch „second opinion“, ein.

Die Zweitmeinung qualifiziert wohl in aller Regel als Auftrag im Sinne von Art. 394 ff. des Obligationenrechts. Dies bringt es mit sich, dass die Parteien, also die auftraggebende Patientin und die mit der Zweitmeinung beauftragte Ärztin eine relative lose Vertragsbeziehung zueinander eingehen. Ein Auftrag kann gemäss gefestigter bundesgerichtlicher Rechtsprechung praktisch jederzeit von beiden Parteien gekündigt werden. Ausnahme bildet die Kündigung zur Unzeit, aber dies dürfte im Fall einer Zweitmeinung kaum zum Thema werden.

Was im medizinischen Bereich heutzutage Gang und Gäbe ist, kommt in der anwaltlichen Praxis nach wie vor eher selten vor. Es scheint, als hätten die Klienten so viel Vertrauen in ihre Anwälte, dass sie nicht auf die Idee kommen, bei wichtigen Fragestellungen einen anderen Anwalt zu konsultieren. Dies ist an sich ein gutes Zeichen für die Anwaltschaft; trotzdem würde ich jederzeit auch meine Klienten dazu ermuntern eine „second opinion“ einzuholen, wenn sie sich vergewissern wollen, ob sie zum Beispiel meiner Empfehlung bei einer wichtigen Weichenstellung folgen wollen.

In Frage kommt die Einholung einer Zweitmeinung in einem Strafverfahren namentlich dort, wo sich die Frage stellt, ob mit dem Staatsanwalt ein „Deal“ im Rahmen eines abgekürzten Verfahrens eingegangen werden soll, und ob die angedachten Eckpunkte einer Strafe angemessen sind. Solche Fragen kann eine erfahrene Strafrechtlerin mit überschaubarem Aufwand recht präzise beantworten, nachdem sie sich einen kurzen Überblick über die Akten- und Beweislage verschafft hat. Ein anderes Beispiel wäre, wenn eine Arbeitgeberin einem Arbeitnehmer fristlos kündigen möchte. Eine solche Entscheidung kann erhebliche (finanzielle) Implikationen mit sich bringen. Insofern könnte es sich aufdrängen, auch noch einen anderen (Fach-)Anwalt zu Rate zu ziehen, der für solche Fragen Erfahrung und Gespür mit sich bringt.

RA Dr. Patrick Götze